„Was mich betrifft, fühle ich mich oft unbehaglich in meinem Kopf. Denn ich denke, dass mein Leben zu wenig ruhig verlaufen ist; all diese Enttäuschungen, Anfeindungen und Veränderungen hindern mich an meiner vollständigen Entwicklung, und natürlich in meiner künstlerischen Laufbahn."
Vincent van Gogh |
Die folgende Biografie ist keinesfalls eine vollständige und umfassende Abhandlung über Van Goghs Leben. Im Gegenteil, es ist eher eine Übersicht über einige wichtige Ereignisse in Van Goghs Leben. In meiner Rubrik „Bücher" widme ich eine besondere Seite den Biografien über Van Gogh und empfehle einige der besten. An erster Stelle steht dabei „Vincent and Theo van Gogh: A Dual Biography" von Jan Hulsker.
Für eine Zusammenfassung des Lebenslaufes Van Goghs verweise ich Sie auf die Rubrik Chronology / Zeittafel.
Vincent van Gogh wurde am 30. März 1853 in Groot Zundert, in den Niederlanden, geboren. Seine Geburt fiel genau auf den Tag, an dem seine Mutter im Vorjahr eine Totgeburt gehabt hatte - einen Jungen, den sie auch Vincent genannt hatten. Es gibt viele Mutmassungen darüber, inwiefern Van Goghs spätere psychische Schwierigkeiten damit zusammenhängen, dass er ein „Ersatzkind" war und einen toten Bruder mit gleichem Namen und gleichem Geburtsdatum hatte. Diese Theorie bleibt unbegründet, und es gibt keine historische Beweise, die dafür sprechen.
Van Gogh war der Sohn des Theodorus van Gogh (1822 - 85), eines Pastors der Reformierten Kirche Hollands, und der Anna Cornelia Carbentus (1819 - 1907). Leider gibt es praktisch keine Hinweise über Van Goghs erste zehn Lebensjahre. Van Gogh besuchte zwei Jahre lang eine Grundschule in Zevenbergen und anschliessend weitere zwei Jahre die König Wilhelm II Sekundarschule in Tilburg. Darauf, im Jahre 1868, verliess er als 15-Jähriger die Schule endgültig.
1869 trat Van Gogh in die Kunsthandelsfirma Goupil & Cie. in Den Haag ein. Seine Familie hatte schon seit langem Beziehungen mit Kunstkreisen - seine beiden Onkel, Cornelis („Onkel Cor") und Vincent („Onkel Cent") waren Kunsthändler. Sein jüngerer Bruder, Theo, arbeitete zeit seines Lebens als Kunsthändler und übte einen entscheidenden Einfluss auf Vincents Künstlerkarriere aus.
Vincent war als Kunsthändler recht erfolgreich und blieb für weitere sieben Jahre bei Goupil & Cie. Im Jahre 1873 wurde er in die Niederlassung der Firma in London versetzt, und er fand rasch Gefallen am künstlerischen Klima Englands. Ende August zog er in der Hackford Road 87 ein und lebte mit Ursula Loyer und deren Tochter Eugenie zusammen. Vincent soll in Eugenie verliebt gewesen sein, aber frühe Biografen verwechseln Eugenie fälschlicherweise mit ihrer Mutter Ursula. Zum jahrzehntelangen Streit über die Verwechslung der beiden Namen ist hinzuzufügen, dass neueste Erkenntnisse darauf hindeuten, dass Vincent überhaupt nicht in Eugenie verliebt war, sondern in eine Holländerin, namens Caroline Haanebeek. Die Wahrheit wird immer im Dunkeln bleiben.
Van Gogh blieb für zwei weitere Jahre in London. In dieser Zeit besuchte er viele Kunstgalerien und Museen, und er wurde ein grosser Bewunderer englischer Schriftsteller, wie George Eliot und Charles Dickens. Er bewunderte auch die Stiche der britischen Graveure in Zeitschriften wie „The Graphic". Diese Illustrationen inspirierten und beeinflussten Van Gogh in seinem späteren Leben als Künstler.
Das Verhältnis van Goghs mit seinem Arbeitgeber verschlechterte sich im Laufe der Zeit und im Mai 1875 wurde er in die Niederlassung der Firma in Paris versetzt. Im Laufe des Jahres zeigte es sich, dass Van Gogh nicht mehr glücklich war mit dem Verkauf von Bildern, die nicht seinem persönlichen Geschmack entsprachen. Van Gogh verliess Gopil Ende März 1876 und beschloss, nach England zurückzukehren, wo er zwei durchaus glückliche und befriedigende Jahre verbracht hatte.
Im April begann Van Gogh an Rev. William P. Stokes Schule zu unterrichten. Er war verantwortlich für 24 Jungen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren. Seine Briefe erwecken den Eindruck, dass er Freude am Unterrichten fand. Darnach unterrichtete er in Isleworth an einer andern von Rev. T. Slade Jones geleiteten Knabenschule. In seiner Freizeit besuchte Van Gogh weiterhin Kunstgalerien und bewunderte die dort ausgestellten Kunstwerke. Er widmete sich auch dem Bibelstudium und verbrachte Stunden mit dem Lesen der Bibel. Der Sommer 1876 war für Van Gogh wirklich ein Jahr des religiösen Wandels. Obwohl er in einer religiösen Familie aufgewachsen war, begann er erst zu der Zeit sich ernsthaft zu überlegen, ob er sein Leben nicht der Kirche weihen sollte.
Um einen Übergang vom Lehrer zum Geistlichen zu finden, bat er den Rev. Jones um mehr Verantwortung in der religiösen Unterweisung. Jones war einverstanden, und Van Gogh begann an Gebetsversammlungen in der Pfarrgemeinde von Turnham Green zu predigen. Diese Vorträge dienten als Vorbereitung auf die eigentliche Hauptaufgabe, die er schon lange angestrebt hatte: seine erste Sonntagspredigt. Obwohl Vincent sich sehr auf seine Aufgabe als Geistlicher freute, waren seine Predigten langweilig und blass. Wie sein Vater hatte er zwar eine Leidenschaft fürs Predigen, aber es fehlte ihm die Begabung, seine Ergriffenheit und seine Begeisterung den Zuhörern zu vermitteln.
Van Gogh liess sich aber nicht abschrecken, und nach einem Besuch bei seiner Familie an Weihnachten beschloss er, in den Niederlanden zu bleiben. Nach einer kurzen Anstellung in einer Buchhandlung in Dordrecht im Frühjahr 1877, zog Van Gogh am 9. Mai nach Amsterdam, um sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorzubereiten, wo er Theologie studieren wollte. Er erhielt Unterricht in Griechisch, Latein und Mathematik, aber sein Misserfolg zwang ihn unwiderruflich, nach 15 Monaten sein Studium abzubrechen. Später beschrieb Van Gogh diese Zeit als „die schrecklichste Zeit meines Lebens". Im November bestand er die Probezeit für eine Anstellung an der Missionsschule in Laeken nicht. Durch all diese Widerstände liess er sich nicht entmutigen und erhielt von der Kirche die Erlaubnis, auf Zusehen hin, in einer der trostlosesten und ärmsten Gegenden in Westeuropa zu predigen, im Kohlendistrict der Borinage, in Belgien.
Im Januar 1879 nahm Van Gogh seine Arbeit auf und predigte den Kohlearbeitern und ihren Familien im Kohlenminendorf Wasmes. Vincent verspürte eine äusserst starke Zuneigung für die Minenarbeiter. Er litt mit ihnen unter den schrecklichen Arbeitsbedingungen und gab als ihr geistlicher Führer sein Bestes, um ihren harten Alltag zu erleichtern. Leider erreichte dieser selbstlose Einsatz bald fanatische Ausmasse, als er all sein Hab und Gut an die ihm anvertrauten Leute verteilte. Trotz Van Goghs edlen Absichten waren die kirchlichen Behörden mit seiner Askese gar nicht einverstanden, und sie entliessen ihn im Juli von seinem Posten. Van Gogh weigerte sich die Gegend zu verlassen und liess sich im nächsten Dorf, Cuesmes, nieder und lebte dort in äusserster Armut. Während des nächsten Jahres mühte er sich von Tag zu Tag ab um zu überleben; wenn er schon nicht fähig war, den Dorfbewohnern in der offiziellen Funktion als Geistlicher zu helfen, zog er es vor, wenigstens ein Mitglied ihrer Gemeinde zu bleiben. Eines Tages fühlte Van Gogh das Verlangen, den von ihm verehrten französischen Maler Breton in seinem Heim zu besuchen. So nahm er mit nur zehn Franken in der Tasche den 70 Kilometer langen Weg nach Frankreich, nach Courrières, unter die Füsse, um Breton zu sehen. Am Ziel angekommen, war Van Gogh jedoch zu schüchtern um anzuklopfen und kehrte unverrichteter Dinge nach Cuesmes zurück.
Zu dieser Zeit begann Vincent die Minenarbeiter und ihre Familien abzuzeichnen, um ihre rauhen Lebensbedingungen aufzuzeigen. Und in diesem entscheidenden Zeitpunkt entschloss er sich für seine nächste und endgültige Karriere als Künstler.
Anfänge als Künstler
Im Herbst 1880, nach mehr als einem einjährigem Aufenthalt im Elend in der Borinage brach Van Gogh nach Brüssel auf, um sein Kunststudium aufzunehmen. Die finanzielle Hilfe seines Bruders Theo ermöglichte ihm diesen Schritt. Vincent und Theo waren einander von Kindesbeinen an sehr nahe gewesen und standen während fast ihres ganzen Erwachsenenlebens in einem ständigen, schonungslos ehrlichen Briefkontakt. Aus diesen Briefen, mehr als 700 sind erhalten, erfahren wir das meiste über Van Goghs Ansichten über sein Leben und sein Schaffen.
1881 war ein ereignisreiches Jahr für Van Gogh. Er schrieb sich an der Kunstakademie, der Ecole des Beaux Arts, in Brüssel ein. In den Einzelheiten sind sich die beiden Biografen, Hulsker und Tralbaut, nicht einig. Tralbaut geht aus von einen kurzen, unbedeutenden Zulassungsvertrag mit der Schule, während Hulsker darauf besteht, dass Van Goghs Bewerbung überhaupt nie anerkannt wurde. Wie dem auch sei, Van Gogh fuhr mit seinen Zeichnungsstunden auf eigene Faust weiter. Dazu verwendete er Beispiele aus Büchern, wie „Travaux des champs", „Feldarbeiten", von Jean-François Millet und aus „Cours de dessin", „Zeichnungsunterricht", von Charles Bargue. Den Sommer verbrachte er wieder einmal bei seine Eltern, die jetzt in Etten lebten, und zu der Zeit begegnete er seiner Cousine Cornelia Adriana Vos-Stricker (Kee). Kee (1846 - 1918) war seit kurzem verwitwet und zog ihren kleinen Sohn allein auf. Vincent verliebte sich in Kee und war am Boden zerstört, als sie ihn abwies. Dieses unglückliche Ereignis endete mit einem der auffälligsten Zwischenfälle in Van Goghs Leben. Nachdem er von Kee abgewiesen worden war, wollte er sie in ihrem Elternhaus aufsuchen. Kees Vater verweigerte ihm die Begegnung mit seiner Tochter, und Vincent, zu allem entschlossen, hielt seine Hand über eine brennende Öllampe und verbrannte sich absichtlich daran. Seine Absicht war es, seine Hand solange über die Flamme zu halten, bis seine Forderung, Kee zu sehen, erfüllt würde. Kees Vater entschärfte die Situation, indem er einfach die Lampe ausblies, und Vincent verliess das Haus gedemütigt.
Trotz dieser emotionalen Rückschläge und trotz persönlicher Spannungen mit seinem Vater erfuhr Van Gogh Ermutigung durch seinen eingeheirateten Cousin Anton Mauve (1838 - 88). Dieser schenkte ihm die ersten Wasserfarben - und gab ihm somit den Anstoss, mit Farben zu arbeiten. Vincent bewunderte Mauves Arbeiten und war ihm äusserst dankbar für jede Unterstützung, die dieser ihm geben konnte. Ihr Verhältnis war ungezwungen, sollte aber angespannt werden, als Vincent zu einer Prostituierten zog.
Van Gogh lernte Clasina Maria Hoornik (1850 - 1904) Ende Februar 1882 kennen. Obwohl sie schon mit ihrem zweiten Kind schwanger war, zog sie schon kurz darauf zu ihm. Diese als „Sien" bekannte Frau lebte die nächsten anderthalb Jahre mit ihm zusammen. Ihre Beziehung war stürmisch, teils wegen ihrer unbeständigen Charaktere, teils wegen der Schwierigkeiten, die ein Leben in äusserster Armut mit sich bringt. Aus Vincents Briefen an Theo geht hervor, dass er Sien und vor allem ihre Kinder liebte, aber seine grösste Leidenschaft war immer die Kunst - bis zur Missachtung aller andern Lebensnotwendigkeiten, inklusive das Essen. Sien und ihre Kinder standen Vincent Modell für Dutzende von Zeichnungen, und sein künstlerisches Können entwickelte sich in dieser Zeit auffallend. Seine frühen, eher primitiven Zeichnungen der Kohlearbeiter in der Borinage ebneten den Weg für weit verfeinertere und gefühlsbetonte Bilder. In der Zeichnung Sien, Sitting on a Basket with a Girl / Sien, mit einem Mädchen auf einem Korb sitzend, zum Beispiel, stellt er meisterhaft beschauliches Leben im trauten Heim dar, aber auch das unterschwellige Gefühl der Verzweiflung - Gefühle, die das Zusammenleben mit Sien während den 19 Monaten bestimmten.
1883 war ein weiteres Jahr der Veränderungen, sowohl in persönlicher, als auch in künstlerischer Hinsicht. Van Gogh begann schon 1882 mit Ölfarben zu experimentieren, aber erst 1883 arbeitete er immer häufiger damit. Je besser er mit seinen Zeichnungen und Gemälden vorankam, desto schlechter wurde seine Beziehung mit Sien, und im September trennten sie sich. Wie nach seinem Versagen in der Borinage verbrachte Van Gogh die Zeit nach dieser zerbrochenen Beziehung in völliger Einsamkeit. Mit grossem Bedauern, vor allem wegen seiner Gefühle für die beiden Kinder, verliess er Mitte September Den Haag und reiste nach Drenthe, einem äusserst trostlosen Distrikt in den Niederlanden. Während der nächsten sechs Wochen führte Van Gogh ein eigentliches Nomadenleben. Er zog durch die Gegend und zeichnete und malte die abgelegene Landschaft und ihre Bewohner.
Im Spätjahr 1883 kehrte Van Gogh wieder einmal zu seinen Eltern zurück, die jetzt in Nuenen lebten. Während des folgenden Jahres verfeinerte er sein Handwerk weiter. In dieser Zeit verfertigte er Dutzende von Zeichnungen und Gemälden: Weber, Spinner und andere Porträts. Die einheimischen Bauern schienen seine bevorzugten Modelle zu sein - einerseits weil Van Gogh eine nahe Verbundenheit mit den armen Arbeitern spürte, andererseits weil er ein grosser Bewunderer Millets war, der ebenfalls mit grossem Mitgefühl einfühlsame Bilder von Feldarbeitern verfertigte. In diesem Sommer nahm Van Goghs Leben eine dramatische und unglückliche Wende: Margot Begemann, deren Familie neben Vincents Eltern wohnte, hatte sich in ihn verliebt, und der Aufruhr der Gefühle dieser unsicheren Beziehung führte dazu, dass sie einen Selbstmordversuch mit Gift unternahm. Vincent war verzweifelt über diesen Vorfall. Schliesslich erholte sich Margot wieder, aber das Ereignis beschäftigte Vincent sehr, und in seinen Briefen kam er immer wieder darauf zurück.
Wendepunkt 1885: Die ersten grossen Werke
In den ersten Monaten des Jahres 1885 führte Van Gogh die Serie der Bauernporträts weiter. Er betrachtete diese als „Studien", als Arbeiten zum Verfeinern seiner Kunst, als Vorbereitung für die Verwirklichung seiner ehrgeizigen Ziele. Die beiden Monate März und April hindurch arbeitete Vincent unverdrossen an diesen Werken. Nur der Tod seines Vaters am 26.März lenkte ihn kurz von seiner Arbeit ab. Die Vater-Sohn Beziehung war in den letzten Jahren sehr belastet gewesen. Vincent war sicher nicht froh über den Todesfall, aber er hatte sich von seinem Vater gefühlsmässig bereits so sehr gelöst, dass er seine Arbeit fortsetzte.
All die Jahre harter Arbeit, des dauernden Feilens an der Technik und der Versuche mit neuen Techniken - all dies waren Schritte auf dem Weg zu seinem ersten grossen Gemälde, den Kartoffelessern.
Den ganzen Monat April durch arbeite Van Gogh an diesem wichtigen Werk. Er hatte mehrere, verschiedene Entwürfe gemacht, alles im Hinblick auf das endgültige Gemälde auf Leinwand. Die Kartoffelesser gelten allgemein als Van Goghs erstes wirkliches Meisterwerk, und das Ergebnis war ermutigend. Van Gogh war zufrieden mit dem Werk, und er ertrug keine Kritik (Seinem Künstlerfreund Anthon van Rappard gefiel das Bild nicht und seine Bemerkungen darüber veranlassten den gekränkten Van Gogh, die Freundschaft aufzukündigen). Jetzt begann eine neue, zuversichtlichere und technisch ausgereifte Phase seiner Karriere.
Das ganze Jahr 1885 hindurch arbeitete Van Gogh unverdrossen weiter, aber plötzlich wurde er wieder ruhelos, auf der Suche nach neuen Anregungen. Anfangs 1886 schrieb er sich kurz an der Akademie in Antwerpen ein, verliess sie aber nach vier Wochen wieder; er fühlte sich durch die engstirnigen, sturen Lehrer eingeengt. Wie er noch oft in seinem Leben zeigte, zog er die praktische Arbeit den formalen Studien vor. Fünf schwierige Jahre lang hatte Van Gogh hart gearbeitet, um sich als Künstler zu verbessern und mit der Verwirklichung der Kartoffelesser bestätigte er sich als erstklassischen Maler. Aber immer wieder wollte er sich noch mehr vervollkommnen, neue Ideen aufnehmen und neuartige Wege versuchen, um zu dem zu werden, was er sich unter einem Künstler vorgestellt hatte. In den Niederlanden hatte er verwirklicht, was möglich war. Jetzt war die Zeit gekommen für neue Horizonte und zum Aufbruch zur weiteren Vervollkommnung seiner Kunst. Van Gogh verliess nun die Niederlande, um Antworten zu finden in Paris . . . und gemeinsam mit den Impressionisten.
Neuanfang in Paris
Monatelang hatte Vincent im Frühjahr 1886 seinen Bruder Theo in seinen Briefen bestürmt, um ihn zu überzeugen, dass Paris der Ort sei, wo er hingehörte. Theo war sich über den allzu fordernden Charakter seines Bruders im Klaren und ging nicht darauf ein. Wie immer war Vincent unbeirrbar, und eines Tages tauchte er einfach unangemeldet bei Theo in Paris auf, und diesem blieb nichts anderes übrig, als seinen Bruder aufzunehmen.
Van Goghs Pariserzeit ist faszinierend im Hinblick darauf, wie sehr sie ihn als Künstler veränderte. Leider sind diese zwei Pariserjahre die Zeit, über die wir am wenigsten wissen - vor allem weil die Biografen so vom Briefwechsel zwischen den beiden Brüder abhängig sind und dieser aufhörte in der Zeit, in der sie in Theos Wohnung an der Rue Lepic 34 im Pariser Montmartre-Quartier zusammenwohnten.
Trotzdem ist die Bedeutung von Van Goghs Pariserzeit unbestritten. Theo hatte als Kunsthändler viele Kontakte, und Vincent fühlte sich bald heimisch bei den erfolgreichen Pariserkünstlern jener Zeit. In den folgenden zwei Jahren besuchte Van Gogh einige der ersten Ausstellungen der Impressionisten (Werke von Degas, Monet, Renoir, Pisarro, Seurat und Sisley). Er wurde ohne Zweifel durch die Methoden der Impressionisten beeinflusst, blieb jedoch seinem eigenen, einzigartigen Stil immer treu. Zwar nahm er während dieser zwei Jahre einige der impressionistischen Techniken auf, doch liess er sich nie durch diese starken Einflüsse von seinem Weg abbringen.
Das ganze Jahr 1886 hindurch zeichnete Van Gogh gerne in der Umgebung von Paris. Seine Farbskala begann, sich von den dunkleren, traditionellen Farben seiner holländischen Heimat zu entfernen und nahm die lebhafteren Farben der Impressionisten auf. Zu diesem Zeitpunkt fing Van Gogh an sich für japanische Kunst zu interessieren, was viel zu seinem komplizierten, gobelinartigen Stil beitrug. Japan hatte gerade nach Jahrhunderten der kulturellen Blockade seine Häfen für Fremde geöffnet, und dies führte dazu, dass die westliche Welt nach dieser langen Isolation von all den japanischen Sachen fasziniert war. Van Gogh erwarb sich eine bedeutende Sammlung von japanischen Holzschnitten. (Diese befinden sich heute in der Sammlung des Van Gogh Museums in Amsterdam.) Gemälde aus dieser Zeit, wie z.B. Das Porträt des Père Tanguy, enthalten beides: Den Gebrauch der von den Impressionisten bevorzugten lebhaften Farben und deutliche japanische Untertöne. Obwohl Van Gogh nur gerade drei Kopien von japanischen Gemälden herstellte, sollte der japanische Einfluss auf seine Kunst für den ganzen Rest seines Lebens in einer subtilen Form sichtbar bleiben.
Das Jahr 1887 in Paris war ein weiteres Jahr, in dem Van Goghs Entwicklung als Künstler voranschritt, aber sie forderte auch viel von ihm, sowohl in emotionaler, wie auch in physischer Hinsicht. Vincents unbeständiger Charakter belastete die Beziehung mit Theo. Als Vincent darauf bestand, bei Theo einzuziehen, tat er dies mit der Hoffnung, dass sie gemeinsam die Ausgaben besser in den Griff bekämen und dass er sich leichter der Kunst widmen könne. Leider führte das Zusammenleben zu Spannungen zwischen den zwei Brüdern. Dazu kam, dass Paris voller Versuchungen war, und Vincent verbrachte eine Grossteil dieser Zeit unter ungesunden, extremen Bedingungen: schlechte Ernährung, und überbordendes Trinken und Rauchen.
Wie so oft in seinem Leben war Van Gogh als Folge des schlechten Winterwetters gereizt und depressiv. Nie war er glücklicher, als wenn sich das Wetter von seiner besten Seite zeigte und er sich im der freien Natur aufhalten konnte. Vincent lebte für die Sonne, entweder malte er oder unternahm einfach lange Wanderungen. Während der langen Wintermonate 1887/88 wurde Van Gogh ruhelos. Und das alte Muster wiederholte sich. Van Gogh zwei Pariserjahre hatten einen ungeheuren Einfluss auf seine laufende Entwicklung als Künstler; aber nun hatte er erworben, was er gesucht hatte, und es war Zeit weiterzugehen. Er hatte das Leben in der Grossstadt nie richtig gemocht, und so beschloss er, der Sonne und seinem Schicksal zu folgen und in den Süden zu ziehen.
Das Atelier im Süden
Im Frühjahr 1888 zog Van Gogh nach Arles. Verschiedene Gründe drängten ihn dazu. Durch das aufreibende hektische Leben in Paris und die langen Wintermonate geschwächt, sehnte er sich nur nach einem: nach der Sonne der Provence. Eine weitere Motivation war sein Traum, in Arles eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Künstler zu gründen, wo seine Kameraden aus Paris Aufnahme finden könnten und wo sie zusammen arbeiten und einander in ihren gemeinsamen Bestrebungen unterstützen könnten. Am 20. Februar bestieg Van Gogh den Zug nach Arles. Er war beseelt von seinem Traum von einer besseren Zukunft, und er genoss die vorbeifliegende Landschaft, die ihm immer mehr japanisch vorkam, je weiter südlich er reiste.
Es gibt keine Zweifel, dass Van Gogh während der ersten paar Wochen enttäuscht war. Auf seiner Suche nach Sonne fand er Arles aussergewöhnlich kalt und sogar von einer dünnen Schneeschicht bedeckt vor. Dies muss entmutigend gewirkt haben auf Van Gogh, der alle Bekannten verlassen hatte, um im Süden Wärme und Erholung zu finden. Das raue Wetter war indessen kurz, und er begann aufzuleben und malte einige seiner beliebtesten Bilder seiner Karriere.
Kaum waren die Temperaturen gestiegen, drängte es den Künstler, im Freien zu arbeiten. In diesem Zusammenhang sind die beiden sich ergänzenden Arbeiten zu beachten: die Zeichnung Landscape with Path and Pollard Trees / Landschaft mit Weg und beschnittenen Maulbeerbäumen und das Gemälde Gemälde Path through a Field with Willows / Weg durch ein Feld mit Weiden. Auf der Zeichnung aus dem März scheinen die Bäume und die Landschaft irgendwie kahl nach dem Winter. Auf dem einen Monat später entstandenen Gemälde zeigen sich schon die allerersten Frühlingsknospen auf den Bäumen. Während dieser Zeit malte Van Gogh eine ganze Reihe von blühenden Obstgärten. Er war beglückt über seine neue Schaffenskraft, und er fühlte sich wie die Obstgärten zu neuem Leben erweckt.
Die folgenden Monate sollten eine glückliche Zeit werden. Anfang Mai bezog Van Gogh ein Zimmer im Café de la Gare an der 10, Place Lamartine und mietete das berühmte „Gelbe Haus* (2, Place Lamartine) als Atelier und Abstellraum. Vincent sollte indessen erst im September ins Gelbe Haus einziehen, um es als Zentrum des Atelier des Südens vorzubereiten.
Während des Frühlings und Sommers arbeitete Vincent fleissig und schickte seinem Bruder Theo ganze Sendungen mit seinen Werken. Van Gogh wird heute oft als reizbarer Mensch und Einzelgänger dargestellt. In Tat und Wahrheit aber fühlte er sich wohl in der Gesellschaft mit andern Menschen, und in diesen Monaten tat er sein Bestes, um Freunde zu finden, die ihm Geselligkeit leisten sollten, aber auch als geschätzte Modelle dienen konnten. Obwohl er zeitweise äusserst vereinsamt war, befreundete er sich mit Paul-Eugène Milliet und mit mit einem andern Zuavensoldaten, deren Porträts er malte. Vincent gab nie die Hoffnung auf, eines Tages ein Künstlerzentrum gründen zu können und begann, Paul Gauguin zu ermutigen, sich ihm im Süden anzuschliessen. Trotzdem schien eine Verwirklichung dieses Planes unwahrscheinlich, denn Gauguins Beherbung hätte noch mehr finanzielle Unterstützung durch seinen Bruder Theo erfordert, der damit an seine Grenzen gestossen war.
Ende Juli jedoch starb Van Goghs Onkel Vincent, der Theo eine Erbschaft hinterliess. Dieser finanzielle Zustupf sollte es Theo erlauben, Gauguins Umzug nach Arles finanziell zu unterstützen. Theo war sowohl als Bruder wie auch als Geschäftsmann daran interessiert. Er spürte, dass sein Bruder in der Gemeinschaft mit Gauguin glücklicher und ausgeglichener sein würde. Zudem rechnete er sich aus, dass die Bilder, die er als Entgelt für die Unterstützung erhalten würde, einen Gewinn abwerfen könnten. Anders als für Van Gogh begann sich für Gauguin mit seinen Arbeiten allmählich ein Erfolg abzuzeichnen.
Trotz Theos verbesserter finanzieller Lage blieb Vincent seiner Lebensweise treu und gab unverhältnismässig viel Geld für Malerutensilien aus, statt für die Bedürfnisse des täglichen Lebens. Er war schlecht ernährt und überarbeitet, und seine Gesundheit verschlechterte sich Ende Oktober. Aber die Nachricht, dass Gauguin bald im Süden eintreffen werde, gab ihm neuen Mut. So arbeitete er hart, um für die Ankunft Gauguins das Gelbe Haus einladend herzurichten. Gauguin traf in der Frühe des 23. Oktobers mit dem Zug in Arles ein.
Die nächsten zwei Monate sollten für die beiden Künstler entscheidend und zugleich verheerend sein. Zuerst kamen die beiden mit einander recht gut aus; sie malten in der Umgebung der Stadt, diskutierten Kunstfragen und versuchten sich in verschiedenen Techniken. Im Laufe der Wochen verschlechterte sich indessen das Wetter, und die beiden sahen sich immer häufiger gezwungen, drinnen zu arbeiten. Wie immer passte sich Van Goghs Seelenzustand (und sehr wahrscheinlich auch derjenige Gauguins) dem Wetter an. Obwohl sie gezwungen waren, drinnen zu arbeiten, kam Van Goghs mit seiner Depression etwas besser zurecht, ermutigt und angeregt durch eine Serie von Porträts, an denen er arbeitete. „Ich habe eine ganze Familie porträtiert ... „ schrieb er in einem Brief an Theo (Brief 560). Diese Gemälde der Angehörigen der Familie Roulin zählten zu seinen Lieblingswerken.
Im Laufe des Monats Dezember verschlechterte sich die Beziehung zwischen den beiden Künstlern trotzdem zusehends. Ihre häufigen Auseinandersetzungen wurden immer hitziger - "elektrisch", wie Van Gogh sie nannte. Die Beziehung der beiden Männer verschlechterte sich Hand in Hand mit Vincents geistiger Verfassung. Am 23. Dezember verstümmelte Van Gogh, in einem Anfall geistiger Umnachtung, sein linkes Ohr. Er schnitt sich das Ohrläppchen ab, wickelte es in ein Taschentuch, brachte es in ein Bordell und schenkte es einer der anwesenden Frauen. Dann schwankte er zurück ins Gelbe Haus, wo er zusammenbrach. Er wurde von der Polizei aufgefunden und ins Hôtel-Dieu Spital in Arles eingewiesen. Gauguin fuhr, nachdem er Theo ein Telegramm geschickt hatte, sofort nach Paris zurück, ohne Vincent im Spital zu besuchen. Van Gogh und Gauguin sollten sich später von Zeit zu Zeit noch Briefe schreiben, einander aber nie mehr persönlich begegnen.
Während seines Spitalaufenthalts war Van Gogh in der Obhut des Arztes Felix Rey (1867-1932). Die Woche nach der Selbstverstümmelung war sowohl psychisch wie auch physisch kritisch für Van Gogh. Er hatte einen grossen Blutverlust erlitten und hatte wiederholt Anfälle, die ihn handlungsunfähig machten. Theo, der unverzüglich herbeigeeilt war, war überzeugt, dass sein Bruder sterben werde, aber Ende Dezember und in den ersten Januartagen erholte er sich fast vollständig.
Die ersten Wochen 1889 sollten nicht einfach sein für Van Gogh. Nach kurzer Erholungszeit kehrte der scheinbar Genesene ins Gelbe Haus zurück, besuchte aber zur Kontrolle weiterhin den Arzt Dr. Rey, und um den Kopfverband wechseln zu lassen. Seine Fortschritte nach dem Zusammenbruch gaben ihm neuen Mut, aber seine Geldsorgen blieben bestehen. Zusätzlich bedrückte ihn, dass sein enger Freund Joseph Roulin (1841-1903) mit seiner Familie nach Marseille zog, um dort einen besser bezahlten Posten anzutreten. Während seines ganzen Aufenthaltes in Arles war ihm Roulin ein lieber, treuer Freund gewesen.
Was seine Kunst betraf, war Van Gogh im Januar und in der ersten Februarwoche recht produktiv. In dieser Zeit malte er einige seiner berühmtesten Werke, wie La Berceuse / Das Wiegenlied und Sunflowers / Sonnenblumen. Aber am 7. Februar erlitt er einen neuen Anfall; in seinem Wahn stellte er sich vor, er werde vergiftet. Wieder wurde er zur Beobachtung ins Hôtel-Dieu Spital eingewiesen. Nach einem Spitalaufenthalt von zehn Tagen konnte er provisorisch wieder ins Gelbe Haus zurückkehren: „Ich bin zuversichtlich." (Brief 577)
Zu dieser Zeit unterzeichneten einige durch Van Goghs Verhalten aufgebrachte Bürger von Arles eine Eingabe an die Behörden, in der sie ihre Befürchtungen auflisteten. Das Schreiben wurde dem Bürgermeister von Arles überreicht und schliesslich dem Polizeipräfekt übergeben, der den Beschuldigten wieder ins Hôtel-Dieu Spital einweisen liess. Die nächsten sechs Wochen verbrachte Van Gogh in der Klinik, durfte aber überwachte Ausflüge unternehmen, um zu malen und seine Besitztümer zu ordnen. Es war eine produktive, emotional aber entmutigende Zeit für den Künstler. Wie vor einem Jahr malte er die blühenden Obstgärten in der Umgebung von Arles. Obwohl er in dieser Zeit einige seiner besten Werke schuf, war er sich seiner ausweglosen Situation bewusst. Nach Diskussionen mit seinem Bruder Theo willigte er schliesslich ein, freiwillig in der Nervenheilanstalt Saint-Paul-de-Mausole in St-Rémy-de-Provence interniert zu werden. So verliess er Arles am 8. Mai 1889.
Internierung
Nach seiner Ankunft in der Heilanstalt wurde Van Gogh in die Obhut von Dr. Théophile Zacharie Auguste Peyron (1827-95) gegeben. Nach einem Untersuch und nach dem Studium des Falles war der Arzt überzeugt, dass der Patient unter einer Art Epilepsie litt- eine Diagnose, die auch heute noch zu den wahrscheinlichsten Möglichkeiten zählt. Die Anstalt war keinesfalls ein „Schlangennest", aber Van Gogh fühlte sich abgestossen durch die Schreie der Mitinsassen und durch das schlechte Essen. Er fand es deprimierend, dass die Patienten, den ganzen Tag untätig herumsassen und keinerlei Anregungen erhielten. Ein Teil von van Goghs Behandlung war die „Hydro-Therapie", ein wiederholtes Eintauchen in einen grossen Badezuber. Diese „Therapie" war zwar keineswegs grausam, aber wohl auch kaum hilfreich, um Van Goghs geistige Verfassung zu verbessern.
In den folgenden Wochen blieb Van Goghs geistiger Gesundheitszustand stabil, und er durfte die Malerei wieder aufnehmen. Die Verantwortlichen wurden gar ermutigt durch seine Fortschritte (oder wenigstens durch die Tatsache, dass er keine neuen Anfälle mehr erlitt). So malte Van Gogh Mitte Juni sein wohl berühmtestes Werk: Sternennacht.
Trotzdem sollte seine relativ ruhige Geistesverfassung nicht lange anhalten, und er erlitt Mitte Juli einen neuen Anfall. Während dieses Anfalls versuchte Van Gogh gar seine Farben zu schlucken. Deshalb wurde er eingesperrt, und die Benutzung seiner Malerutensilien wurde ihm verwehrt. Obwohl Van Gogh sich ziemlich rasch erholte, war er entmutigt durch die Tatsache, dass ihm das einzige, was ihm Freude und Abwechslung brachte, verweigert wurde: seine Kunst. Nach einer weiteren Woche liess sich Dr. Peyron erweichen, und er gestattete seinem Patienten wieder zu malen. Sobald dieser wieder arbeiten konnte, verbesserte sich auch seine geistige Verfassung. Vincent sandte seinem Bruder Briefe, in denen er ausführlich über seinen schlimmen Gesundheitszustand berichtete. In der selben Zeit hatte Theo selbst mit ähnlichen gesundheitlichen Beschwerden zu zu kämpfen; seine Gesundheit war immer recht zart gewesen, und er war das fast das ganze Frühjahr 1889 über krank gewesen.
Während zweier Monate war Vincent unfähig, sein Zimmer zu verlassen, und er schrieb seiner Schwester: „ ... wenn ich draussen auf den Feldern bin, werde ich oft so sehr von einem schrecklichen Gefühl von Einsamkeit übermannt, dass ich mich scheue, mein Zimmer zu verlassen ..." (Brief W14) In den folgenden Wochen sollte van Gogh allerdings seine Ängste überwinden und seine Arbeit wieder aufnehmen. Zu dieser Zeit begann er Pläne zu schmieden für seine Zukunft nach einem eventuellen Austritt aus der Anstalt in Saint-Rémy. Er vertraute seine Überlegungen Theo an, der sogleich nach Alternativen für Vincents gesundheitliche Betreuung suchte- diesmal näher bei Paris.
Van Goghs geistiger und gesundheitlicher Zustand für das restliche Jahr 1889 blieb recht stabil. Theo hatte sich grösstenteils von seinen Beschwerden erholt, und mitten in den Vorbereitungen für ein Heim mit seiner Frau half er Octave Maus, der in Brüssel eine Ausstellung, die XX, organisierte, in der sechs von Vincents Werken ausgestellt werden sollten. Vincent schien begeistert über die Herausforderung und war die ganze Zeit über recht produktiv. Der ununterbrochene Briefwechsel zwischen den beiden Brüdern zeigt viele Einzelheiten auf über Vincents Auftritt in der Ausstellung.
Am 23. Dezember, ein Jahr nach der Verstümmelung seines Ohres, erlitt Van Gogh einen erneuten Anfall, eine „Verwirrung", wie er es nannte (Brief 620). Der Anfall war recht schlimm und dauerte ungefähr eine Woche, aber Vincent erholte sich recht schnell und nahm das Malen wieder auf- diesmal entstanden vor allem Kopien von Werken anderer Künstler, einerseits wegen des angeschlagenen Gesundheitszustandes, andererseits wegen des schlechten Wetters. Leider erlitt er während der ersten Monate 1890 weitere Anfälle. Diese waren häufiger und beeinträchtigten Van Gogh weitaus mehr als die früheren. Ironischerweise erhielten seine Werke erstmals einige Zustimmung durch die Kritik, zu einer Zeit, da sich der Maler in seinem wahrscheinlich schlimmsten Tiefpunkt und in einem Zustand grösster Mutlosigkeit befand. Die Nachrichten darüber vermochten Van Gogh nur weiter zu deprimieren und erneuerten seine Hoffnung, die Anstalt verlassen zu können und in den Norden zu ziehen.
Nach einigen Erkundigungen kam Theo zum Schluss, dass es für seinen Bruder das Beste wäre, wenn er nach Paris käme und sich in die Obhut des Dr. Gachet begäbe, eines Homöopathen, der in der Nähe von Paris, in Auvers-sur-Oise, lebte. Vincent war mit den Plänen seines Bruders einverstanden und packte seine Sachen in Saint-Rémy. Am 16. Mai 1890 verliess Van Gogh die Heilanstalt und bestieg den Nachtzug nach Paris.
„Die Traurigkeit wird ewig da sein . . . . "
Vincents Reise nach Paris verlief ohne Zwischenfälle, und bei seiner Ankunft erwartete ihn Theo. Van Gogh verbrachte drei angenehme Tage bei seinem Bruder und dessen Frau Johanna und ihrem nach Vincent genannten, neugeborenen Sohn. Er hatte das hektische Leben in der Stadt noch nie besonders gern gehabt. Deshalb fühlte er sich bei seiner Rückkehr gehetzt und wünschte, Paris möglichst schnell zu verlassen, um zum ruhigeren Ziel seiner Reise zu gelangen, nach Auvers-sur-Oise.
Kurz nach seiner Ankunft traf er dort Dr. Gachet. Obwohl er zuerst von seinem neuen Arzt beeindruckt war, sollte er später grosse Zweifel an dessen Fähigkeiten äussern. Dabei ging er sogar soweit zu bemerken, dieser sei „kränker als ich es bin, oder mindestens ebensosehr" (Brief 648). Trotz der schwierigen Umstände gelang es dem Künstler, ein Zimmer zu finden in einem Gasthaus, das Arthur Gustave Ravoux gehörte, und er begann sogleich, die Umgebung von Auvers zu malen.
Im Lauf der nächsten zwei Wochen mässigte Van Gogh seine Ansicht über Dr. Gachet, und er vertiefte sich ganz in seine Arbeit. Es gefiel ihm ausserordentlich in Auvers, denn hier fand er die Freiheit, die man ihm in Saint-Rémy verweigert hatte, und der neue Aufenthaltsort bot ihm so viele Motive fürs Malen und Zeichnen. Van Goghs erste Wochen verliefen friedlich und ohne Zwischenfälle. Am 8. Juni kamen Theo und Jo mit dem Baby nach Auvers, um Vincent und Gachet zu besuchen, und Vincent verbrachte einen frohenTag mit seiner Familie. So wie es schien, war Vincent wiederhergestellt, sowohl körperlich, wie auch geistig.
Den ganzen Juni über blieb Van Gogh in guter Verfassung und war äusserst produktiv; es entstanden einige seiner bekanntesten Werke (z.B. Porträt des Dr. Gachet und Die Kirche von Auvers). Die ursprüngliche Ruhe des ersten Monats in Auvers wurde indessen unterbrochen durch die Nachricht, dass der kleine Vincent ernsthaft erkrankt sei. Theo hatte in den vergangenen Monaten eine äusserst schwierige Zeit zu überstehen: Ungewissheit über seine eigene Laufbahn und Zukunft, andauernde Gesundheitsprobleme und die Krankheit seines kleinen Sohnes. Nach der Genesung des Babys beschloss Vincent am 6. Juli, Theo und seine Familie zu besuchen, und nahm den Frühzug nach Paris. Über den Besuch ist sehr wenig bekannt, aber Jo schrieb Jahre später, dass der Tag anstrengend und recht angespannt war. Bald fühlte sich Vincent wieder überfordert und kehrte möglichst schnell nach Auvers, seinen ruhigeren Zufluchtsort, zurück.
Während den nächsten drei Wochen nahm Van Gogh seine Arbeit wieder auf, und wenn wir seinen Briefen glauben wollen, war er in dieser Zeit recht glücklich. Seiner Mutter und seiner Schwester schrieb er: „Gegenwärtig fühle ich mich viel ruhiger als letztes Jahr, und die Unruhe in meinem Kopf hat stark nachgelassen." (Brief 650) Van Gogh war vertieft in seine Arbeit auf den Feldern und Ebenen um Auvers, und im Verlauf des Monats Juli entstanden einige einzigartige Landschaftsbilder. Es schien, dass Vincents Leben eine produktive - wenn nicht glückliche - so doch wenigstens stabile Form angenommen hatte.
Obwohl die Einzelheiten in den verschiedenen aufgezeichneten Berichten sich widersprechen, erscheint der Ablauf der Ereignisse an jenem 27. Juli klar. An diesem Sonntagabend brach der Künstler wie gewohnt mit Staffelei und Malutensilien auf. In einem Feld nahm er einen Revolver hervor und schoss sich in die Brust. Es gelang ihm noch, sich ins Gasthaus zu schleppen, wo er auf seinem Bett zusammenbrach und bald vom Wirt Ravoux gefunden wurde. Der ansässige Landarzt Dr. Mazery und ebenso Dr. Gachet wurden herbeigerufen. Die beiden Ärzte erachteten es als sinnlos, die Kugel aus des Sterbenden Brust zu entfernen, und Dr. Gachet schrieb einen dringenden Brief an Theo. Unglücklicherweise hatte er Theos Privatadresse nicht, sodass er an dessen Arbeitsplatz, an die Galerie, schreiben musste. Trotz dieser unbedeutenden Verzögerung traf Theo am nächsten Nachmittag ein.
Theo verbrachte die letzten Stunden bei seinem sterbenden Bruder. Er kümmerte sich um ihn, hielt seine Hand in der seinen und unterhielt sich mit ihm in ihrer Muttersprache, auf Holländisch. Vincent schien in sein Schicksal ergeben, und Theo schrieb später: „Er selbst wollte sterben; als ich an seinem Bett sass und ihm sagte, dass wir ihn retten wollten und hofften, dass ihm dann in Zukunft diese Art der Verzweiflung erspart würde, sagte er: <
Vincent van Gogh starb am 29. Juli 1890, kurz nach Mitternacht um 1.30 Uhr. Der Pfarrer der katholischen Kirche in Auvers verweigerte die Bestattung auf dem Friedhof, weil der Verstorbene Selbstmord begannen hatte. Schliesslich gestattete die Nachbargemeinde das Begräbnis, und die Beerdigung fand am 30. Juli statt. Der Maler Emile Bernard, Van Goghs langjähriger Freund, schrieb in einem ausführlichen Brief an Gustave-Albert Aurier folgendes über das Begräbnis:
An den Wänden des Raums, in dem sein Leichnam aufgebahrt wurde, waren all seine letzten Bilder aufgehängt worden, die so gleichsam einen Glorienschein für ihn bildeten, und das Aufblitzen des Genies , das sie ausstrahlten, machte diesen Tod umso schmerzlicher für die Künstler. Der Sarg war mit einem schlichten weissen Tuch bedeckt und von Blumen in grosser Zahl eingerahmt, die Sonnenblumen, die er so sehr liebte, gelbe Dahlien, gelbe Blumen überall. Dies war, wie Sie sich wohl erinnern, seine Lieblingsfarbe, das Symbol des Lichts, das er in die Herzen ebenso wie in die Kunstwerke träumte.
Ebenfalls in seiner Nähe, vor seinem Sarg, standen seine Staffelei, sein Klappstuhl und seine Pinsel.
Da waren wir alle, in der grössten Stille versammelt um den Sarg, der unsern Freund barg. Ich betrachtete die Studien; ein sehr schönes, trauriges Bild nach Delacroix' „Die Jungfrau und Jesus" und ein Gemälde nach Doré „Gefangene, die umgeben von hohen Gefängnismauern, im Kreise herumgehen", ein Bild von erschreckender Grausamkeit und zugleich ein Symbol für sein Ende. War das Leben für ihn nicht jenes Gefängnis mit den allzu hohen Mauern gewesen? Und diese Menschen, die unablässig um dieses Loch herumgingen, waren das nicht die armen Künstler, die armen, verdammten Seelen, die unter der der Geisel des Schicksals dahinschritten? . . . .
Um drei Uhr wurde der Sarg emporgehoben, Freunde trugen ihn zum Leichenwagen, einige in der Menschengruppe weinten. Theodore Van ghohg (sic!) , der seinen Bruder immer bewundert und in seinem Kampf um die Kunst und die eigene Unabhängigkeit stets unterstützt hatte, schluchzte die ganze Zeit bitterlich . . . .
Draussen brannte die Sonne unerträglich heiss. Wir bestiegen einen Hügel ausserhalb Auvers und sprachen über den Verstorbenen, über den kühnen Anstoss, den er der Kunst gegeben hatte, über all die Projekte, die er stets im Kopf herumgewälzt hatte, über all das Gute, das er uns allen hatte angedeihen lassen.
Wir erreichten den kleinen, neuen Friedhof, der mit mehreren neuen Grabsteinen übersät war. Die letzte Ruhestätte liegt auf einem kleinen Anhöhe oberhalb den erntereifen Feldern, unter einem weiten blauen Himmel, wie er es auch noch genossen hätte, --- vielleicht.
Dann wurde der Sarg in die Gruft versenkt . . . .
Wer hätte in diesem Augenblick seine Tränen zurückhalten können? . . . der Tag war zu sehr wie für Vincent geschaffen, und es fiel schwer sich vorzustellen, dass er nicht mehr lebte und ihn geniessen konnte . . . .
Dr.Gachet (ein grosser Kunstkenner und Besitzer einer der besten Sammlungen impressionistischer Malerei unserer Zeit) wollte einige Worte zur Würdigung Vincents und über sein Leben sprechen; doch auch er weinte so sehr, dass er nur ein verwirrtes Lebewohl herausbrachte . . . (Vielleicht war dies die schönste Art dies auszudrücken).
Kurz beschrieb er Vincents Kämpfe und seine Erfolge und erwähnte, wie erhaben sein Ziel war, und bekannte, wie sehr er selbst ihn bewunderte (obwohl er ihn erst seit kurzem kannte). Der Verstorbene war, sagte er, ein rechtschaffener Mensch und ein grosser Künstler, er verfolgte nur zwei Ziele: die Menschlichkeit und die Kunst. Die Kunst, die ging ihm über alles, und durch sie wird sein Name unsterblich sein.
Dann kehrten wir zurück. Theodore Van ghog (sic!) war von Kummer gebrochen, alle Anwesenden waren tief bewegt. Einige gingen weg in die offene Landschaft, andere begaben sich zum Bahnhof.
Laval und ich suchten Ravoux' Gasthaus auf, wo wir uns noch über ihn unterhielten . . . .1
Sechs Monate nach seinem Bruder starb Theo van Gogh und wurde in Utrecht begraben. Seine Frau, Johanna, die sich treu und unermüdlich um den Nachlass Vincents kümmerte, liess 1914 Theos Überreste ausgraben und neben Vincents Grab auf dem Friedhof in Auvers beisetzen. Sie bat um einen Efeuzweig aus Dr. Gachets Garten, der zwischen den beiden Grabsteinen eingepflanzt werden sollte. Noch heute bedecken die gleichen Efeupflanzen die Grabstätten der beiden Brüder.
1. Heft 4: „Ein grosser Künstler ist tot": Kondolenzschreiben nach Vincent van Goghs Tod, herausgegeben von Sjraar van Heugten und Fieke Pabst (Waanders, 1992, Seiten 32-35).
Quellenangaben
(Uebersetzt durch Bruno Wenk.)
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Der Sarg war bereits geschlossen. Ich kam zu spät, um nochmals den Mann zu sehen, der mich vor vier Jahren voller Hoffnung verschiedenster Art verlassen hatte . . . .
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